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1.5  Minimalphasensysteme (MPS)

1.5.1  Eigenschaften

Minimalphasig nennt man Systeme, die in der rechten ℒ -Halbebene weder Pole noch Nullstellen besitzen [Pap62, 10-3]. Für rationale Übertragungsfunktionen bedeutet diese Eigenschaft, daß Nenner und Zähler von H(s)  HURWITZ-Polynome sein müssen. Die Freiheit von Polen bzw. Nullstellen für Re s> 0  machen H (s)  und H −1(s)  auf diesem Gebiet zu analytischen Funktionen.20 Unter solchen Voraussetzungen ist man in der Lage, H(s)  zu logarithmieren und dabei die Holomorphieeigenschaft trotzdem zu bewahren. Bezeichnen wir F(s)= lnH (s)  , so kann man nach Beziehung 1.10 und 1.11 einen determinierten Zusammenhang zwischen Dämpfung A (s)=  − Re F(s)= − ln|H(s)| und Phase B (s) = − Im F (s) = − j∡ H(s)  angeben.21

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Eine wichtige Voraussetzung für die Anwendbarkeit beider Formeln ist nach dem Lemma von JORDAN allerdings lim |s|→ ∞|F(s)|= 0  . Im Allgemeinen kann man von dieser Voraussetzung jedoch nicht ausgehen, so daß genau wie in den Beziehungen 1.24 die Dämpfung A(∞)  zu berücksichtigen ist [Fri81, 5.3.1.2].

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1.5.2  Zerlegungssatz von BODE

Praktisch kann man jedes LTI-System mit rationaler Übertragungsfunktion H (s)= U (s)∕V(s)  als Kettenschaltung eines Allpaß- und eines Minimalphasensystems verstehen [Pap62, 10-3], [Mar95, 5.2], [Wun62, 3.14], [Fri79a, 3.5]. Spalten wir dazu die Zählerfunktion U (s)  so auf, daß alle Nullstellen mit negativem Realteil in U− (s)  liegen, die mit positivem in U+ (s)  .

H(s)= U-(s)-= U-− (s)U+-(s)
      V (s)      V (s)

Einfache Erweiterung mit dem HURWITZ-Polynom U+(− s)  ergibt

      U  (s)U (− s)   U (s)
H(s)= --−----+---- ⋅--+----,
      ◟---V◝(◜s)----◞◟U+(◝−◜-s)◞
           HMPS       HALP
(1.25)

d. h. die Zerlegung in

H(s)= HMPS (s)⋅HALP(s)
(1.26)

1.5.3  Schlußfolgerungen

  1. Der eigentliche Begriff “Minimalphasensystem” sollte an dieser Stelle klar werden, wenn man die Gesamtphase
    − B (ω )= ∡ H (jω )= ∡ HMPS(jω)+ ∡ HALP (jω )

    betrachtet. Denn würde der Anteil des Allpaß’ vermieden, so reduzierte sich das Gesamtsystem auf ein Minimalphasensystem.

  2. Der determinierte Zusammenhang zwischen Dämpfung und Phase eines Minimalphasensystems besteht aufgrund der Nullstellenlage (bzw. Analytizität von ln HMPS(s)  und    −1
lnHMPS(s)  in der rechten ℒ -Halbebene). Die Abhängigkeit von Real- und Imaginärteil der einzelnen Übertragungsfunktion (vgl. Abschnitt 1.4) ist davon thematisch unberührt, zumal sich die dadurch bedingte Kausalität und Stabilität auf die Lage der Polstellen bezieht.
  3. Aus Formel 1.25 kann man als allgemeine Übertragungsfunktion eines Allpaß’ ablesen:

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Um die Problematik etwas anschaulicher zu gestalten, hier ein Beispiel aus [Pap62, 10-3].

       --1-- 1−-s-
H (s) = 2+ s ⋅1+ s
       ◟◝◜◞ ◟-◝◜◞
       HMPS  HALP

Wie sofort erkennbar, handelt es sich um ein stabiles System mit den Polen s×1 = − 1  und s×2 = − 2  . Die Nullstelle des Allpaß’ bei s∘ = +1  hat einen positiven Realteil, ist also HALP (s)  richtig zugeordnet. Obwohl insgesamt H(∞ )= 0  gilt (JORDAN-Bedingung), verschwindet die Amplitude des Allpaß-Anteils HALP (∞)  im Unendlichen nicht.23 Auch die Partialbruchzerlegung für H (s)  deutet einerseits auf Stabilität (speziell auch h(∞ )= 0  ), andererseits auch auf Kausalität (h(t)= 0  für t < 0  ) hin.

H(s)=  -3--− --2--o--o h(t) = u(t)(3e−2t− 2e−t)
       2+ s  1 + s

Beide als Kettenschaltungen anzusehende Übertragungsfunktionen

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haben voneinander abhängige Real- und Imaginärteile, wie man mit der Transformationsbeziehung

   {       }
     --x---      --a---
ℋ    a2+ x2  = − a2+ x2

feststellt.

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Trotzdem besteht ein fester Zusammenhang zwischen Dämpfungs- und Phaseverlauf nur für den Minimalphasenteil HMPS(s)  , nicht für H(s)  insgesamt. Der Allpaß-Anteil sorgt insbesondere dafür, daß sich die Phase um den Betrag       -2ω--
arctan 1− ω2   erhöht.