Das Lemma von JORDAN in seiner allgemeinen Form nach Gleichung 33 ermöglicht (unter den angezeigten Voraussetzungen) die Berechnung von uneigentlichen Integralen durch komplexe Integration. Um das Prinzip zu verdeutlichen befassen wir uns zuerst mit dem (einfachen) Spezialfall nach Gleichung 40, welcher die Berechnung des Integrals
unter Umständen wesentlich vereinfacht.
Dazu soll auf dem geschlossenen Weg nach Abbildung 3 unter Zuhilfenahme des Residuensatzes integriert werden. Nun lassen wir laufen, was die Residuen aller Singularitäten in der oberen komplexen Halbebene () adressiert.
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Mit JORDAN’s Lemma erhält man als Berechnungsvorschrift:
Das Integral kann also einzig und allein basierend auf der Kenntnis der Residuen (an den Singulärstellen , die oberhalb der reellen Achse liegen) berechnet werden.
Voraussetzungen für die Anwendbarkeit Notwendige Bedingungen für die Anwendbarkeit von Formel 42 sind:
Kann man sogar absolute Konvergenz, d. h. nachweisen, dann ist wegen
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der letzte Punkt der notwendigen Bedingungen (gewöhnliche Konvergenz) grundsätzlich erfüllt [WW27, § ].
Die Eigenschaft der absoluten Konvergenz kann für ganz bestimmte Klassen von Funktionen generell nachgewiesen werden, wovon eine z. B. die mit der “Abkling”-Charakteristik
ist [GKH79, 20.2]. Wir betrachten also die Beschränktheit von unter der Maßgabe, daß sich eine Zahl (wie gefordert) für jeden Wert finden läßt. Ist dem so, dann gilt im offenen Intervall die Relation
und mit
kann die absolute Konvergenz entlang des positiven Teils der reellen Achse () nachgewiesen werden.33
Gleichzeitig wird die Bedingung von JORDAN’s Lemma erfüllt, denn:
In ähnlicher Art und Weise ist bei exponentiell abfallenden Funktionen die absolute Konvergenz dadurch gegeben, daß sie (wenn eine Zahl existiert) für die Ungleichung erfüllen.34 Denn setzt man diese Relation in Ungleichung 43 ein
und löst das rechtsseitige Integral auf,
so wird die Beschränktheit des Ergebnisses erkennbar.
Speziell für gebrochen rationale Funktionen ist es durch Hinzunahme von Beziehung 30 möglich, noch folgende Vereinfachung anzugeben (vorausgesetzt alle Pole sind von erster Ordnung):
Die Bedingung kann man bei (echt) gebrochen rationalen Funktionen dahingehend konkretisieren, daß der Grad des Nennerpolynoms um mindestens zwei größer als der des Zählerpolynoms sein muß.
Oben halbanalytische Funktionen Für eine in der oberen komplexen Halbebene analytische Funktion kann man unter bestimmten Voraussetzungen jeden Funktionswert im Gebiet durch Integration entlang der reellen Achse berechnen. Dazu soll (wie bei der Herleitung von CAUCHY’s Integralformel 14) eine neue Funktion
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definiert sein, für die wir zunächst das Residuum an der (einzigen) Singularität bestimmen (vgl. Formel 29).
Einsetzen in den Ausgangspunkt des allgemeinen Falls () nach Gleichung 41 führt mit dem Integrationsweg laut Abbildung 3 zu:
Im Ergebnis erhält man CAUCHY’s Integralformel in der Halbebene nach [BC03, 119].36
Rechts halbanalytische Funktionen Sollte entgegen der bisherigen Ausführungen im Gebiet analytisch sein, dann integriert man auf einem Halbkreis in der rechten Halbebene entsprechend Abbildung 5. Die einzige Singularität liegt (wieder) innerhalb der Kurve und hat, nimmt man CAUCHY’s Integralformel 13 sowie Gleichung 21 zu Hilfe,37 das Residuum
Nach dem Residuensatz (und bei Anwendung von JORDAN’s Lemma für den Fall eines positiv imaginären , vgl. Abschnitt 6) ergibt sich daraus
und somit für den Funktionswert an der Stelle :
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Nimmt man noch die Ersetzung vor, so läßt sich die Integration entlang der imaginären Achse auf eine reelle Integrationsvariable abbilden (siehe auch Tabelle 1).
Abhängigkeit zwischen Real- und Imaginärteil Gehen wir jetzt nocheinmal zum Fall , d. h. in die obere Halbebene zurück und betrachten Formel 45 mit Blick auf die Lage von .38 Nehmen wir (im Gegensatz zu den bisherigen Ausführungen) an, der Punkt läge in der unteren Halbebene und bezeichnen ihn der besseren Unterscheidbarkeit wegen mit . Aufgrund des Fehlens von Singularitäten innerhalb der Kurve (siehe Abbildung 3, ist in der oberen Halbebene als analytisch vorausgesetzt), muß nach dem Satz von CAUCHY das Integral
verschwinden. Bringt man diese Gleichung in Zusammenhang mit dem Punkt nach Formel 45 auf einen gemeinsamen Nenner,
so läßt sich aus der rechtsseitigen39 Beziehung die Äquivalenz
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ermitteln. Deshalb kann man für den Funktionswert an der Stelle schreiben:
Wählt man den Punkt jetzt noch (gezielt) als Spiegelung von an der reellen Achse (), so ergibt einfaches Einsetzen
was zu folgenden Berechnungsformeln für führt [BC03, 119]:
Durch Einsetzen von lassen sich außerdem die Darstellungsformen
gewinnen, wobei die Realteil-Beziehung auch POISSON’s Integralformel für die Halbebene genannt wird.40 Durch getrennte Betrachtung von Real- und Imaginärteil erhält man daraus die Formeln
welche durch Einsetzen in 50 und 51 die Berechnung des Funktionswertes aus den Randwerten nur einer Komponente ermöglichen.
Letztere Beziehungen eröffnen in Verbindung mit Gleichung 5 außerdem die Möglichkeit der Differentiation von an jeder Stelle mit ausgehend von den Randwerten nur einer Komponente.41
Für den Spezialfall kann man durch formales Einsetzen
das uneigentliche Integral
ermitteln und dadurch auch für verifizieren.
Wegen der Holomorphieeigenschaft in der rechten Halbebene muß nach dem Satz von CAUCHY folgendes gelten:
Das Integral auf dem Weg verschwindet nach JORDAN’s Lemma für , wenn angenommen werden kann. Die beiden Teilintegrale auf dem geraden Integrationsweg entlang der imaginären Achse stellen für genau einen CAUCHY’schen Hauptwert dar, was ihre Zusammenfassung ermöglicht.
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Mit der Substitution , welche die gewünschte Integrationskurve verkörpert, nimmt das Integral auf dem Weg die Darstellung
an. Bildet man den Grenzwert , so geht es (Stetigkeit von bei vorausgesetzt) in
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über, was sich auch als Spezialfall von CAUCHY’s Integralformel 13 deuten läßt.42 Einsetzen in unser Zwischenergebnis 57 ergibt:43
und deshalb
für Punkte auf der imaginären Achse. Im Vergleich mit den für gültigen Beziehungen (insbesondere dem Äquivalent zu 49 in Tabelle 1) läßt sich feststellen, daß der Grenzübergang
genau mit dem Ergebnis für übereinstimmt.
und beide Seiten der Gleichung betrachtet.
Voraussetzungen für die Anwendbarkeit Eine wesentliche Voraussetzung für das Verschwinden des Integrals auf dem Integrationsweg nach Abbildung 3 war nach dem Lemma von JORDAN: . Für Funktionen, die in einer Halbebene uneingeschränkt analytisch sind, reduziert sich die Forderung allgemein auf
Zu beachten ist dabei, daß je nach Verlauf des halbkreisförmigen Integrationsweges noch mit einer anderen Bedingung, den Real- oder Imaginärteil von betreffend, zu kombinieren ist (vgl. Tabelle 1).
Weitere Voraussetzungen für die Anwendbarkeit der Berechnungsformeln bestehen darin, daß auf dem jeweiligen Integrationsweg analytisch (sowie beschränkt) und das zugeordnete Integral konvergent sein muß (siehe auch Abschnitt 7.1.1).